Gott wird einschreiten und der Krieg wird enden – davon sind wir überzeugt

30. Juni 2023

Gespräch mit der Tschechin Marie Provazníková

Gott wird einschreiten und der Krieg wird enden – davon sind wir überzeugt
30. Juni 2023 - Gott wird einschreiten und der Krieg wird enden – davon sind wir überzeugt

Das kleine ukrainische Dorf Veselynivka liegt 120 km nördlich der Hafenstadt Odessa. Dennoch wird es hauptsächlich von Tschechen bewohnt. Das Dorf wurde vor hundert Jahren von Nachfahren tschechischer Exulanten, die nach der Schlacht am Weißen Berg ihre Heimat verlassen hatten, gegründet. Zu den alteingesessenen Bewohnern gehört auch Marie Provazníková, die bereits seit einem Vierteljahrhundert als Hilfspredigerin die dortige evangelische Gemeinde leitet. Sie weiß daher um die Freuden und Ängste ihrer Schwester und Brüder. Gemeinsam mit ihnen durchläuft Marie gerade eine der schwersten Prüfungen des Lebens – den Krieg. Sie wirkt dennoch ruhig, spricht ausgezeichnet tschechisch, offen und mit Demut. Über die Rolle des Glaubens in ihrem Leben und im derzeitigen Krieg habe ich mit ihr bei mir im Büro gesprochen. Schon seit Jahren fährt Marie regelmäßig nach Prag. Sie betrachtet Tschechien daher als ihr Zuhause. Trotz ihres 80. Geburtstags in diesem Jahr hat sie sich auf die Reise gemacht. Auch der nun schon seit 12 Monaten andauernde Überfall der russischen Armee auf die Ukraine konnte sie nicht davon abhalten.

Wie leben Sie Ihren Glauben im Alltag?

Ich bin dankbar. Für jeden Morgen. Für alles, was ich den ganzen Tag erlebt habe, für alles, wofür ich Mut, Stärke, manchmal auch Weisheit und Ausdauer hatte.

Ist für Sie der persönliche, innere Glaube oder eher das gemeinsame Erleben des Glaubens in der Gemeinschaft wichtig?

Ich erlebe den Glauben sehr stark in Gottesdiensten. Ich freue mich, dass wir Orte haben, an denen wir zusammenkommen können. Orte, an denen wir lachen, weinen, beim Kaffee oder Tee zusammensitzen und einfach einen Raum für das freie Gespräch haben. Glaube ist für mich Freiheit.

Ein wichtiger Teil dessen, woran Christen glauben, ist die Hoffnung. Die Hoffnung auf das Reich Gottes, auf das ewige Leben und auch darauf, dass das Gute und die Liebe siegen. Wie äußert sich diese Kunde der Hoffnung in Ihrem Leben?

Das lässt sich in der jetzigen Situation schwer sagen. Wir leben in einer schrecklichen Zeit. Aber wir sagen uns immer wieder, auch in den Gottesdiensten, dass wir die Hoffnung haben, dass Gott selbst eingreift. Es gibt so viel Schreckliches auf der Welt, aber das Gute und die Liebe müssen stärker sein. Die Liebe überdauert alles. Wir hoffen, dass bessere Zeiten kommen werden. Wir glauben an Gott, beten zu ihm und bitten ihn, dass er uns erhört. Wir glauben, dass der Herr eingreift und wenn der Krieg erst beendet ist, wird das unseren Glauben deutlich stärken. 

Viele Menschen sagen aus eigener Erfahrung, dass der Glaube ihnen in schwierigen Situationen oder in Prüfungen des Lebens hilft.  Die Ukraine befindet sich seit einem Jahr in einem Krieg, dessen Gräuel unbeschreiblich sind.  Hilft Ihnen der Glaube im Krieg? Kann er überhaupt helfen?

Ich denke, ja. In den Nachrichten sehen wir regelmäßig, dass auch Soldaten sich ins Gebet vertiefen. Ich denke auch ihnen hilft der Glaube. Auch sie haben ihre Seelsorger, die mit ihnen beten und die sie segnen. 

Wie sieht es jetzt in Veselynivka aus? Inwiefern ist das Dorf vom Krieg betroffen?

Wir sind, Gott sei Dank, weit von der Front entfernt. Am nahegelegensten ist Mykolajiw, dorthin sind es 120 km. Dort ist alles kaputt. Bei uns haben wir in diesen zehn Monaten nur ein paar Mal Flugzeuge gehört, die zum Gegenangriff gegen Drohnen und Raketen gestartet sind, aber bei uns war Gott sei Dank nichts. Wir leben in einem eher ruhigen Gebiet. Aber den ganzen Tag schauen wir Nachrichten und verfolgen, was wo passiert. Am schlimmsten ist es jetzt in Bachmut. Dort sterben auf beiden Seiten viele Menschen. 

Aber auch bei Ihnen auf dem Dorf hat der Krieg das Leben sicher verändert? 

Ich denke, die Leute sind enger zusammengerückt. In Veselynivka hatten wir Glück im Unglück. Wir haben den ersten Weltkrieg erlebt, die Hungersnot, die Jahre 1947 und 1948 ... Es gab Deportationen, aber niemand von uns ist gestorben. Die Menschen haben zusammengehalten. Ich bin Jahrgang 1943, an die 50er Jahre kann ich mich noch erinnern. Nach dem Krieg war es schwierig alles wieder aufzubauen. Meine Eltern zum Beispiel haben ohne Lohn gearbeitet. Die ganze Ukraine hat sich zusammengerauft, um die Schäden zu beheben. Jetzt ist das so ähnlich, glaube ich. 

Meine Uroma hat beide Weltkriege erlebt, insbesondere am zweiten war sie sehr nah dran. Ich erinnere mich aber daran, dass trotz allem, was sie erlebt hatte, sie ruhig und ausgeglichen wirkte. Einer der Verse, nach denen sie lebte, war: „Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn sei gepriesen.“ (Hi 1,22) Sehen Sie das auch so? Sind Sie innerlich versöhnt mit dem, was da kommt?

Ich persönlich spüre die Unterstützung Gottes in meinem Leben. Als meine Tochter gestorben ist, war es sehr schwierig, weil ich sie als Menschen verloren hatte, aber ich bin überzeugt, dass Gott mich gehalten hat. Also wie Sie sagen, der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen.  Er hat mich auch davon abgehalten ihn dafür zu verurteilen. Mir sind drei Enkelkinder geblieben. Aber nie haben wir uns verlassen gefühlt. Ich habe ihnen immer gesagt: „Ihr habt keine Mutter, ihr habt keinen Vater, aber wir haben den Herrn im Himmel, der uns schützt.“ In solch persönlichen Situationen hat mir der Glaube immer geholfen.

Fragen Sie sich nicht im Gegenteil manchmal, wie es möglich ist, dass der Herr so viel Böses zulässt? Werfen Sie ihm etwas vor?

Jetzt im Krieg ist es schrecklich. Wenn man all die Einschläge hört und die Nachrichten sieht, hat der Mensch das Recht bisweilen zu zweifeln. Wir haben das Recht uns zu fragen: „Gott, wo bist du?“ Aber ich werfe dem Herrn nichts vor und das habe ich auch nie getan. Nicht als meine Tochter gestorben ist und auch jetzt im Krieg nicht. Ich denke, wir haben Gott selbst vielfach enttäuscht. Gott lässt viele Dinge zu, aber er verlässt uns nicht.

Und wie erklären Sie sich all das Böse, das in der Welt passiert? Und das, was in der Ukraine passiert?

Das sind Menschen, denen nichts heilig ist. Weder die Familie, noch Kinder, noch geliebte Menschen oder die Natur. Sie sehen nur das Geld und es stört sie nicht Blut an den Händen zu haben. Das Böse macht vor nichts Halt. 

Ich habe große Bewunderung dafür, wie mutig, hartnäckig, entschlossen und vereint die Menschen in der Ukraine sind. Was erklären Sie sich das? Ist das Teil des ukrainischen Charakters? 

Ich glaube, das ist der Situation geschuldet. Die Menschen sind wirklich wütend, weil gerade alles zerstört wird, in das sie ihre Energie gesetzt haben, alles, was sie aufgebaut haben. Sie halten stärker zusammen, denn dort, wo alles kaputt ist, haben sie wirklich nichts mehr. Sie gehen mit leeren Händen fort. Außerdem gibt es den Menschen und den Soldaten viel Kraft, wenn sie sehen, dass Präsident Selenskyj sich nicht fürchtet. 

Vor nicht langer Zeit (in der Ausgabe 12/2022), haben wir mit einem Experten für Krisensituationen gesprochen. Er sagte, dass einem Menschen, der gerade durch eine schwierige Zeit geht, Rituale helfen können. Helfen Ihnen solche Rituale? 

Ich habe keine Rituale. Ich glaube eher, wenn man sich in einer schwierigen Situation befindet, braucht man jemanden an seiner Seite. Man braucht ein gutes Wort, manchmal vielleicht einen Moment der Stille und das Bewusstsein, dass ein Mensch da ist, der fühlt, dass es einem gerade nicht gut geht. Mein einziges Ritual besteht darin, dass ich zu jemandem gehe und ihn um Hilfe bitte, um einen Ratschlag und dieser jemand hört mir zu. Eine Frau in unserem Dorf befand sich vor kurzem in einer sehr schwierigen Lage. Also habe ich mit ihr gesprochen. Nicht direkt über ihre Situation, sondern über alles Mögliche. Nach und nach sind wir immer mehr in die Tiefe gegangen. Und ihr ging es dann besser. 

Hier in Tschechien steht die Kirche in der Hilfe für die Ukraine eng zusammen und natürlich kümmern wir uns auch um unsere Landsleute, wir schicken regelmäßig Nachrichten und schreiben Gebete.  Erst kürzlich haben zwei unserer Pastoren die ukrainischen Gläubigen besucht. Wie nehmen Sie diese Unterstützung wahr, erreicht sie Sie überhaupt? 

Das Geld erreicht uns und das ist für unser Dorf eine große Unterstützung. Die Nachrichten und die Gebete lese ich mir regelmäßig durch. Ich kenne mich mit dem PC nicht so aus, aber meine Nichte bereitet immer alles vor und während der Gottesdienste lesen wir sie gemeinsam. Alle sind sehr dankbar dafür und freuen sich. Sie sagen, solange die Gemeinde lebt, lebt auch das Dorf. Leider ist es jetzt so, dass uns niemand besuchen kommt. Das letzte Mal im Herbst 2021 zum Jubiläum in Bohemka und dann jetzt erst wieder Mirek und Tomáš (Miroslav Pfann und Tomáš Vítek, evangelische Pfarrer, die Veselynivka im Oktober 2022 besuchten, Anm. d. Red.) Wir verstehen, dass es kompliziert ist, aber uns reicht das nicht. Der Český bratr erreicht uns nur selten. Erst lange Zeit nichts und dann mehrere Ausgaben auf einmal. Wir wissen nicht, wo sie verloren gehen. 

Es tut mir sehr leid, denn ich betrachte den Český bratr als Möglichkeit Ihnen etwas zu Ihrer Freude zu schicken. 

Dafür sind wir sehr dankbar! Er wird von allen gelesen. Aber ich sage auch immer zu Mirko [Pfann], wenn ich mir die Kosten dafür anschaue – wenn es nicht geht, dann lasst es. Es kostet Geld und am Ende landen sie irgendwo im Müll ... 

Gibt es eine Stelle oder einen Vers in der Bibel, zu dem Sie oft zurückkehren? 

In meinem Alter komme ich gerne auf den 90. Psalm zurück. Ich lese gerne in der Bibel, sowohl im Alten als auch im Neuen Testament. Ich habe sie als Geschenk zu meiner Ordination bekommen. Sie ist während dieser 24 Jahre ganz schön zerkratzt und schmutzig geworden. Manche Leute sagen, man solle nicht in Bücher schreiben. Aber mir hilft das.  Ich lese etwas und dann kann ich es nicht mehr finden, da unterstreiche ich es lieber. Manchmal in Rot, manchmal in Blau. Wenn ich den Gottesdienst vorbereite, habe ich zwar die gelesene Predigt, aber ich füge noch weitere Texte hinzu. Die Sendung und die Segnung wähle ich entsprechend der aktuellen Situation aus. In den Anfangszeiten unserer Gemeinde konnten nur wenige die Bibel lesen und so haben wir noch eine Lesung hinzugefügt, damit die Menschen den Text hören. Das wurde ganz am Anfang eingeführt und jetzt haben wir uns daran gewöhnt.

Was ist für Sie in Ihrem Glaubensleben am wichtigsten? 

Ich lebe immer in der Hoffnung, dass alles gut werden wird. Der Glaube macht mich ruhiger, ich bin sozusagen leicht optimistisch. Zu den Gottesdiensten kommen vor allem Großmütter und ich sage ihnen immer wieder, dass alles gut werden wird. Manchmal beklagen sie sich darüber, wie alt sie sind. Und ich sage ihnen: „Wir sind die Schönsten von allen!“ Meine Nachbarin hat immer zu mir gesagt: „Du hast ein gutes Leben, weil du keine Sorgen hast.“ Dabei hatte ich Sorgen über Sorgen.  Aber ich dachte immer: „Was bringt mir das?“ Der Glaube hat mir im Leben viel Halt gegeben. Und ein freundliches Wort. Ich glaube, das Wort stärkt den Glauben. 

Adéla Rozbořilová